Das Corpus der Cicero-Briefe ist ein zentraler Ausgangspunkt, will man sich den alltäglichen und nicht-alltäglichen Herausforderungen eines Individuums (im Falle Ciceros freilich eines sehr speziellen Individuums) im spätrepublikanischen Rom nähern: Die riesige Auswahl an ‚echten Gebrauchsbriefen‘ (im Umfang immerhin knapp der Hälfte der überlieferten Reden Ciceros) an verschiedenste Adressat*innen (darunter auch einige Briefe aus anderer Feder) aus dem Zeitraum von etwa 68-43 v. Chr. bietet spannende Impressionen aus der (wohlgemerkt autofiktionalen) Lebenswelt Ciceros. Wenig verwunderlich ist daher, dass das Corpus v.a. als Steinbruch für Informationen über das Alltagsleben der Römer*innen verwendet wurde und Einzelaspekte isoliert betrachtet wurden und noch wird.
Davon soll sich dieses Projekt insofern unterscheiden, als in einem Querschnitt über alle Briefe des Corpus die Wahrnehmung, Konzeptualisierung und Bewältigung der mannigfaltigen Herausforderungen eines Individuums im spätrepublikanischen Rom untersucht werden sollen. Was nimmt der jeweilige Briefautor als Herausforderung wahr, in welchen Termini werden Herausforderungen verschiedener Wichtigkeit beschrieben? Gibt es Unterschiede in den Herausforderungen, wenn Briefe aus dem urbanen oder dem nicht-urbanen Raum stammen? Die alltäglichen und nicht-alltäglichen Herausforderungen sollen thematisch und nach der empfundenen Wichtigkeit kategorisiert werden, etwa persönliche Herausforderungen (basale körperliche Bedürfnisse, Krankheit/Gesundheit, Mobilität, Kommunikation, Zwischenmenschliches [z.B. die Beziehung zur Ehefrau, zu Kindern, zu Sklaven und weiteren Untergebenen, zu Verwandten, zu Freunden, Bewältigung von Trauerfällen]), aber auch kollektive Sondersituationen wie (Bürger-)Krieg, Gewaltexzesse und Exil. Die Aufarbeitung der Perspektive des Individuums auf persönliche und kollektive Herausforderungen bietet enorme Potentiale auch mit Blick auf die Herausforderungen des Lebens im 21. Jahrhundert, gerade wenn in einem zweiten Schritt nach der Analyse des Materials psychologische und soziologische Zugänge zum Corpus offengelegt werden können.